Der Kater und die Ratte

    Es war einmal ein Junge, der hieß Tobias. Er hatte eine Ratte, die war so weiß wie Schnee und hieß deshalb auch Schnee. Schnee war ein sehr anhängliches Tierchen. Immer, wenn es sich ergab, hockte sie auf Tobias seiner rechten Schulter und wartete auf Streicheleinheiten. Tobias liebte seine Schnee über alles. Leider hatte seine Mutter angewiesen, dass Schnee das Haus nicht verlassen darf. Also mußte sie in ihren Käfig zurück, wenn Tobias aus dem Haus ging. Obwohl Ratten keine Mimik besaßen, hatte Tobias immer den Eindruck, das Schnee ganz traurig zu ihm aufschaute, wenn sie in ihren Käfig zurück mußte. Und dabei war der Käfig top. Immer sauber und, so dachte der Junge wenigstens, für eine Ratte urgemütlich.

    Es war in der Adventszeit, kurz vor Weihnachten, als Tante Ernestine starb. Sie war sehr alt geworden und in der letzten Zeit immer wieder krank. Tobias dachte bei sich, es wird ihr da oben im Himmel bestimmt gut gehen. Sie war eine liebe Frau gewesen. Immer wenn er zu ihr zu Besuch kam, hatte sie ein kleines Geschenk für ihn. Das fand er super, denn Oma und Opa waren nicht so freizügig. Sie hatten vielleicht auch nicht soviel Geld wie Tante Ernestine.

    Tobias Eltern mußten sich um den Nachlaß und die Wohnung kümmern. Und da gab es ein Problem, das nannte sich Mirko. Mirko war ein pechschwarzer Kater im gesetzten Alter, also auch schon etwas träge. Wer sollte sich jetzt um Mirko kümmern? Tobias hatte eine Ratte, also konnten sie den Kater nicht zu sich nehmen. Aber ins Tierheim wollten sie ihn auch nicht geben. Was also tun? Es wurde im Freundeskreis herumgefragt, ob nicht jemand einen gestandenen Kater haben will, aber niemand wollte. Schließlich sprach der Papa von Tobias ein Machtwort: „Wir nehmen erst einmal den Kater auf und die Ratte muß in ihrem Käfig bleiben. Keine weitere Diskussion.“

    So kam Mirko zu Tobias. Er störte keinen, denn er lag den ganzen Tag nur faul herum. Natürlich ging er aufs Katzenklo und an seinen Fressnapf, aber ansonsten lag er nur auf dem Sofa im Wohnzimmer in einer Ecke. Nach ein paar Tagen dachte sich Tobias, wenn der Mirko sowieso nur so faul herum liegt, warum soll ich Schnee nicht aus dem Käfig lassen. Die Ratte ist immer auf meiner Schulter, da kann nichts passieren. Sowie Tobias allein in der Wohnung war, holte er Schnee aus dem Käfig. Ihm war, als ging ein Aufatmen durch die Ratte. Sie hat bestimmt nicht verstanden, warum sie die ganze Zeit nicht mehr auf meiner Schulter sein durfte.

    Als Tobias ins Wohnzimmer kam, geschah etwas Seltsames: Schnee sprang von seiner Schulter und rannte schnurstracks auf Mirko zu. Der erhob sich und schaute gebannt auf die näher kommende Ratte. Tobias hielt den Atem an. Wird der Kater etwa die Ratte jetzt fressen? Warum ist er nur auf diese dumme Idee gekommen? Schon standen ihm die Tränen in den Augen.

    Aber nichts dergleichen geschah. Mirko legte seine Vorderpfote um Schnee und beide kuschelten aneinander. Tobias traute seinen Augen nicht. Kann das wirklich wahr sein? Zwei Todfeinde so inniglich vereint? Die beiden verstanden sich bestens. Wenn er es nicht sehen würde, könnte er es nicht glauben. Tobias näherte sich den beiden Tieren und betrachtete sich das Geschehen ganz aus der Nähe. Er wurde den Eindruck nicht los, als würden sich Schnee und Mirko schon lange kennen. Immer wieder schauten sich beide an und nickten leicht mit den Köpfen, so als würden sie sich unterhalten. Das sah lustig aus.

    Nachmittags kamen die Eltern von Tobias nach Hause. Er konnte mit der Neuigkeit nicht warten und verhaspelte sich beim Sprechen, so aufgeregt war er. Mama und Papa schauten dann auch etwas entgeistert auf die beiden Tiere, wie sie da so aneinander gekuschelt auf dem Sofa lagen. Das hatten sie auch noch nicht gesehen. Und innerlich fiel ihnen ein Stein vom Herzen. Wenn sich die beiden Tiere so gut verstanden, dürfte es ja keine Probleme mehr geben.

    In dieser Nacht konnte Tobias lange nicht einschlafen. Immer wieder dachte er an Mirko und Schnee. Wie seltsam das alles war. Als er am nächsten Morgen aufwachte, konnte er sich ganz genau an einen Traum erinnern. Sonst wußte er nie, was er geträumt hatte, aber diesmal war es anders. In diesem Traum war Schnee ein Schäfer und Mirko ein schwarzer Schäferhund. Sie hüteten eine große Schafherde, so wie das die Schäfer mit ihren Hunden schon immer taten.

    Tobias konnte den Duft des Grases riechen und schmeckte den rauhen Wind, der über die Landschaft fegte. Und auf einmal wußte er, dass die Seelen des Schäfers und seines Hundes bei Mirko und Schnee waren. Deshalb verstanden sich die beiden bestens. Sie kannten sich aus einem früheren Leben. So und nicht anders mußte es sein. Und der Junge beschloß, diese Erkenntnis für sich zu behalten. Ihm würde sowieso keiner glauben, wenn er das erzählen würde.

© PM 07/2003