Der Schneetraumbaum

    Im Herbst bereiten sich die Bäume auf den Winter vor. Sie sind müde geworden. Den Frühling und den ganzen Sommer haben sie ihre Blätter mit flüssigem Saft versorgt, um so auch wieder ein kleines Stück zu wachsen. Zum Ende des Herbstes und mit Beginn des Winters bekommen die Blätter keine Nahrung mehr, färben sich bunt, vertrocknen und fallen schließlich ab.

    So geht es auch dem Schneetraumbaum. Der Baum hat sich fest verschlossen. Die Rinde ist etwas dicker geworden und lässt nichts von der Kälte hinein. Der Schnee ist des Baumes Freund, denn er schützt zusätzlich vor der Kälte, wenn er sanft und leicht auf die Äste fällt. Wenn Frau Holle gut gelaunt und voller Elan ist, dann schüttelt sie länger als sonst ihre Betten aus, und es schneit und schneit. Der Baum schaut besorgt in den Himmel und fragt sich, wann es wieder aufhört zu schneien. Denn die Schneelast wird immer schwerer und irgendwann können die Äste den Schnee nicht mehr ertragen und brechen unter seiner Last ab.

     Das wäre sehr schlimm, denn der Baum schützt sich nicht nur vor der Kälte, sondern schützt auch die Träume der kleinen Elfen und Kobolde, die tief unten in den Wurzeln sich in ihren Höhlen eingekuschelt haben und schlafend auf den Frühling warten. Sie zu wecken, wäre gar nicht gut. Die Kobolde, kleine dicke Wichtel mit einer Zipfelmütze, einer dicken Nase und einem langen Bart, finden im Winter nicht nach Hause, der tiefe Schnee nimmt ihnen die Sicht und verdeckt die Wegmarkierungen. Den Elfen, kleine Mädchen mit spitzen Ohren, frieren die zarten Flügel ein, wenn es ganz hart kommt, und sie können nicht mehr fliegen.

    Und wenn es denn doch einmal passiert, dass dem Baum die Äste brechen, die Kälte hinein-fährt und Kobolde und Elfen vertreibt, dann suchen sie die warmen Häuser der Menschen auf. Anfangs sind sie etwas verärgert über Frau Holle, die doch nicht so übertreiben muss, aber wenn sie dann in den Häusern angekommen sind, ist der Ärger schnell verflogen. Sie sind friedlich und tun euch nichts, solange ihr sie in Ruhe lasst. Denn manchmal passiert es, dass man ihrer gewahr wird. Sie legen den Finger an den Mund und wollen dir sagen, sei still und vergiss, was du eben gesehen hast.

    Also wenn es richtig Winter ist und viel Schnee liegt, und ihr seid abends im Bett noch wach und hört etwas rascheln, könnte es eine Maus sein oder ein Vogel am Fenster, oder aber ein Kobold oder eine Elfe, die sich in euer Zimmer verirrt haben. Ihr solltet also im Bett bleiben und versuchen zu schlafen. Als Belohnung bekommt ihr einen besonders schönen Traum, den ihr so schnell nicht vergesst und von dem ihr am nächsten Tag euren Eltern oder auch Geschwistern erzählen könnt. Bei den anderen Träumen ist es so, wenn ihr aufwacht, wisst ihr, ihr hattet einen schönen Traum, aber wisst nicht mehr, was ihr eigentlich geträumt habt.

    Und noch etwas: Wenn ihr im dunklen Zimmer aufsteht, kann es passieren, dass ihr mit diesen zarten Geschöpfen zusammentrefft, im schlimmsten Fall aus Versehen auf sie tretet. Dann könnte es sein, dass ihr sie in euren Träumen weinen hört.

© PM 01/2002